Ein innerer Monolog zum Tuch von Julia Neuenhausen
Es ist, so denke ich, kein allzu großer Sprung, wenn plötzlich von einem Leichentuch die Rede ist. Das Wort „Leichentuch“ kommt insofern nicht „plötzlich“. Obgleich Leichentücher in unseren Breitengraden sehr selten eine öffentlichkeitswirksame Relevanz bergen. Im Kontext einer von überwiegend christlichen Bestattungsriten beherrschten Gesellschaft scheint das Leichentuch, in seiner Anwendung, schlichtweg kein geläufiges Brauchtum mehr zu sein. Der Brauch, das wäre ein der Verrottung anheim gegebenes, menschliches Fleisch, eine Leiche, im Rahmen ihrer inszenierten Übergabe an das Post-Mortem, durch ein mit Symbolen der Lebens- und oder Todesnähe ausgestattetes Tuch zu verhüllen. Im Speziellen ist das „und oder“ gerade der Punkt des Leichentuchs. Der gemeine Zeitgeist hingegen, sofern nicht in spezifisch islamische oder jüdische Leichentuchpraktiken involviert, bevorzugt eine durch Make-Up und Konservierungsmittel geleistete Re-Konstruktion der Sich-Zersetzenden Verlustigen und praktiziert hiernach selbst im Angesicht des Todes noch dessen Leugnung. Das friedlich schlafende Gegenüber soll die Sinne betören, zum Trauern einladen und -nicht zuletzt- Wut entfachen. Wut gegen den Tod! Die unversehrte Anwesenheit jenes Gegenübers ist dabei notwendig, um von einem Raub durch den Tod berichten zu können; um die Tat des Todes anzuklagen. Ein Un-Tot kündet vom Tod, bezeugt den Tod, … aber der Tod ist nicht da. Man könnte ohnehin fragen, ob es ausreicht etwas Totes zu sehen, um überhaupt den Tod zu sehen, will sagen, ein Ereignis der Todesgegenwärtig zu erfahren. Ein Leichentuch, lässt gerade nicht sehen. Doch es umkleidet den toten Menschen nicht auf, dass die Betrachtenden, die Andächtigen, sich des faulen Angesichts des Todes entziehen können, sondern damit der Tod, unser äußerstes, innerstes Anderes, die eigentliche Verhüllung, selbst ‚ist‘. Das Leichentuch wird zum Statthalter dessen, was es verhüllt: die immerwährende Verhüllung, die Nur-Verhüllung oder das Wort Tod in einer Art wahren Aussprache.
Die Symbole, welche den schwarzen Grund des Tuchs, überfließen, vernehme ich als in dieser Sprache des Todes sprechend: Der aufgebrochene, fragmentierte Körper, das Ent-Atmende, das Erhebende, die „brennende Hand“, der Schub in den Traum, die Traumschöpfer*in, die Gunst, der Sich-schlängelnden, Ströme aus Licht, welche die Abgründe erschatten und im Schatten lassen. Es sind Lobpreisungen an den Tod, Hymnen, die aus ihrem ganzen Wissen um sein Walten – man mag dies Weisheit nennen – , zu sprechen und zu singen scheinen. Das Leichentuch ist dieses Wissen und sofern es den Körper einer Person berührt, auch dasjenige, was ihr Begräbnis markiert. Sollte sich allerdings eine Person der eigenen Wahl nach mit jenem Tuch umkleiden, so würde sie sich in jenem Augenblick an dasjenige übergeben, wohin im Strenge Sinne keine Übergabe erfolgen kann, da der Tod, als Tod des hier und jetzt, gerade Ort- und Zeitlos ist. Obgleich er an einem Ort und in einer Zeit dagewesen sein kann. Jene Person würde dieses Ort- und Zeitlose sein, das vom Wissen, um sich selbst umraumt ist – Körper ist. Das vorliegende Tuch zu tragen ist folglich eine Aufgabe, ein Verlust, eine kognitive Unmöglichkeit, in diesem Sinne vielleicht eine Sabotage, an dem, was sich gewohnheitsmäßig dem Tod verweigert. Aber eine Sabotage, die sich verhüllend auf die Haut legt und wärmt, denn ohne Tode würden wir erfrieren. Und eine die erzählt, denn ohne Tod wären wir stumm. Damit wäre jene Annahme des Todes jedoch in die Nähe dessen gerückt, was es heißt lebendig zu sein, d.h. so gesehen als Begräbnis zu sein und darin, wach zu sein. Und man weiß – aus Erfahrung – Begräbnisse des Lebens sind kollektive Erfahrungen. Man stirbt zwar allein, aber irgendwie allein mit anderen. So ist es ein weiteres Besonderes dieses Tuches, dass viele jener Symbole der Todes- und oder Lebensnähe von anderen Individuen als jener Einzelschöpferin ihren Weg, in bestickender, durch Nadelstiche fragmentierter Weise zu ihm fanden. Es sind zwar ihre lebenden Verbündeten, welche die Trägerin des Tuches auf ihren Weg in den Tod begleiten, aber sie sind gleichsam selbst schon ein Ereignis des Todes.
Dieser Zusammenhang ist vielleicht die bedeutendste Darbringung des Todes, welche gerade in ihrer historisch eingespurten Verkennung den stetigen Ertrag rasender Scheiterhaufenmänner bezeugt. Jene, welche eine sich am Bundhaften ausrichtende Entledigung des Todes praktizieren und tragischer Weise dem Tod nur Tod entgegenhalten können, ob mit offener oder verdeckter – nicht verhüllter -Re-konstruktion. Und Re-konstruktion heißt auch Rück-kehr – Wieder-kehr, in den Nicht- Tod. Doch im Bund, da waltete der Tod schon längst! Da fand, im Sinne Emmanuel Lévinas, ein Sprung zum anderen schon statt; ein Aufbruch, ein nicht-Wissen, eine Verhüllung, welche man in Kauf genommen hat. So sagt der letzte gemeinsame Atemzug, der jeder ist: Der Tod ist das Wir. Wir geschehen sterbend. Dieses Geschehen des Todes gibt sodann aber auch vor, um Willen welcher Instanz dieses Sein als Lebendiges Begräbnis, Sein als Verschiebung, Ent-schiebung, Trauminstanz und Instanziierung von Traum ihr Wunderwerk verrichtet: Für das andere, sich selbst, was bedeutet: für die anderen. Es gibt damit sich selbst für die anderen; auf dass sie zu dem kommen, was sie sind, auf das sie ganz werden, auf dass sie Tod werden.
Hanune Shalati